Das BRICS-Treffen in Johannesburg war ein großartiger Erfolg

Vom Debattierclub zur Weltbewegung

Eine andere Welt ist möglich, dürfte das Leitmotiv der über 40 Staaten sein, die sich für die Aufnahme in die BRICS-Gemeinschaft interessieren. Sechs von ihnen – Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – sollen in einer ersten Tranche, wie Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa betonte, zum 1. Januar 2024 als Vollmitglieder aufgenommen werden. Das dürfte das prägnanteste Ergebnis des an Diskussionen und Gesprächsthemen reichhaltigen dreitägigen Treffens in Johannesburg sein.

Die Wahl von sechs Staaten ist ein Kompromiss. Vor allem China, aber auch Russland wollten mehr, Indien, Brasilien und Südafrika standen eher auf der Bremse. Hier sind die innenpolitischen Konflikte und die Rücksichtnahmen gegenüber Washington besonders ausgeprägt. Geographisch gesehen dürften Ägypten und Äthiopien eine Verbeugung vor dem gastgebenden afrikanischen Kontinent sein und Argentinien den Wünschen Brasiliens entsprechen.

Entscheidend ist aber die deutliche Verstärkung von BRICS im Bereich der Produktion und des Handels mit Fossilenergie. Vor allem durch die Fossilschwergewichte Saudi-Arabien, Russland, Iran, die VAE und China wird BRICS-11 zukünftig für etwa 48 Prozent der globalen Erdölproduktion stehen – BRICS und OPEC „verschmelzen“ in einem gewissen Grade. Ohne Öl keine moderne industrielle Produktion und Distribution. Da jeder Öl und Ölprodukte braucht und die Rechnungen mittlerweile in lokalen Währungen ausgestellt werden, bekommt damit die Entdollarisierung einen gewaltigen Schub.

Dieses Momentum kann deutlich erhöht werden, wenn – was als wahrscheinlich gilt – auf dem im kommenden Jahr in Kasan stattfindenden 16. BRICS-Treffen weitere Beitrittskandidaten aufgenommen werden. Die Wahl dieses über 1.000 Jahre alten, prächtigen und traditionsreichen tatarischen Zentrums deutet hin auf die große Bedeutung der Ost-West-Begegnung, des -Handels, der Wissenschaft, Kultur und religiösen Toleranz, welche die russische Seite vermitteln möchte

BRICS-11 sind aber auch auf dem Gebiet weiterer Rohstoffe eine Macht. Russland, China, Brasilien, Argentinien und viele der weiteren beitrittswilligen Staaten verfügen über reichhaltige und für die heutigen Produkte und Produktionsprozesse unverzichtbare Bodenschätze. Überdies gibt es dort enorme Potentiale für die Nahrungsmittelproduktion: Getreide, Gemüse, Fleisch, Düngemittel – Güter, die zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der weltweit acht Milliarden Menschen unverzichtbar sind. In den BRICS-11-Staaten leben 3,591 Milliarden Menschen, 44,5 Prozent der Weltbevölkerung. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 64,4 Billionen US-Dollar, in realer Kaufkraft (KKP) gerechnet, übertreffen sie die G7 deutlich. Dafür sind die Schulden der G7 sechsmal höher als die der BRICS-11-Staaten. Diese stehen aber nicht nur für große Teile der Weltproduktion, sondern sie beherbergen auch die größten Märkte, die noch dazu über die größten Wachstumsraten verfügen. Wer zukünftig Güter exportieren möchte, kann es sich kaum noch leisten, hier nicht vertreten zu sein. Länder des BRICS-Verbunds zu sanktionieren wird für den US-geführten „Wertewesten“ künftig immer weniger durchführbar werden.

Kolonialismus und Neokolonialismus hatten den Reichtum des Globalen Südens zu einem Fluch werden lassen. Über Jahrhunderte beuteten die Monopole des „Wertewestens“ seine Ressourcen aus, zwangen seine Menschen unter das Joch von Sklaverei oder sklavenähnlicher Arbeit. Nach dem epochalen Befreiungskampf der Völker des Südens gelang es Washington ab 1945, mithilfe seiner Kriegsmaschine sowie mit IWF und Weltbank die alten Kolonialmächte zu verdrängen und die neokoloniale Herrschaft des vorwiegend anglo-amerikanischen Finanzkapitals zu errichten. Der Washington Consensus – eine Art Grundsatz-, besser Kriegserklärung des internationalen Finanzkapitals – formuliert einen parasitären Rentenanspruch, im Prinzip auf die gesamte globale Mehrwertproduktion. Da sich dieser Rentenanspruch nach dem Zinseszinsprinzip exponentiell steigert, steht am Ende die völlige Ruinierung der Nationalökonomien. Auch in den Staaten des „Wertewestens“ selbst ist dieser Prozess spürbar vorangekommen.

Um den (neo-)kolonialen Fluch tatsächlich in einen sozialökonomischen Segen zu verwandeln, braucht es allerdings mehr als den Zusammenschluss unter dem Dach des BRICS-Verbunds. Die hervorragenden makroökonomischen Daten sind das eine. Damit ist die Unabhängigkeit vom nach wie vor dominanten Finanzkapital des Westens und seinen Institutionen noch nicht erreicht. Das internationale Finanzkapital, sinnfällig verkörpert im Davoser Weltwirtschaftsforum, wird weiterhin seine Rentenforderung gegen den Globalen Süden erheben. Diese ökonomisch-monetäre Dominanz findet im politischen Raum ihre Entsprechung, wie es in Indien, Brasilien und Südafrika exemplarisch zu sehen ist. Der politische Spielraum des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva beispielsweise ist ausgesprochen begrenzt. Argentinien wird von einer kleinen, teils massiv BRICS-kritischen Kompradorenbourgeoisie von 50 Familien beherrscht. Wie auch in Chile, ist der Einfluss der Wall Street und ihrer neoliberalen Fundamentalisten in Südamerika insgesamt – und nicht nur dort – gewaltig. Um eine wirklich breite sozialökonomische Prosperität für alle zu ermöglichen, wäre der parasitäre Rentenanspruch der Wall Street und der Londoner City zurückzuweisen, wären eine antineoliberale Programmatik des BRICS-Verbunds und eine massive Stärkung der New Development Bank erforderlich – im Kern eine antineoliberale Revolution. BRICS-11+ sind ein großer Erfolg, aber es bleibt viel zu tun.

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"Vom Debattierclub zur Weltbewegung", UZ vom 1. September 2023



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